Antwort auf: Zuletzt gesehen II von Travis

Farman
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So, einige neuere Produktionen mussten erforscht werden, und ein bißchen Optimismus macht sich breit, doch nichts ist und war je schwieriger als sich ein exaktes Bild vom Gegenwartskino zu machen. Über alle Filme bleibt mir noch viel, viel zu sagen, aber ich mach es relativ kurz und (hoffentlich nicht fatal) banal.

4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage

Der rumänische Streifen von einem Regisseur namens Christian Mungiu, der in Cannes die goldene Palme abgeräumt hat, ist bemerkenswert. Den Begriff "Elendskino", den man sich in deutschen Feuilletons für etwas harschere realismusorientierte Filme mit Wackelkameras ausgedacht hat, um sie nicht weiter zu beachten, ist für den Streifen weder fair noch zutreffend. Es geht mindestens so sehr um eine präzise und oft komplexe psychologische Realität wie um das übliche Repertoire von trickreichen Trübsinnigkeitserzeugern, die Kamera wackelt manchmal und manchmal nicht, meistens bleibt sie diskret. Anhand zweier Schlüsselsequenzen, die nicht verraten werden sollen, wird das sichtbar: Einmal lässt sie erahnen und einmal zeigt sie voll drauf, beide Male kommts als kompletter Schock.
Die Schauspielerführung und die Schauspieler (vor allem -innen) sind sensationell. Doch ein großer Film ist es nicht. Das Thema Abtreibung, in Zusammenhang mit Patriarchalität und Totalitarität, erfährt ähnlich wie im komplett entgegengesetzten (und imo schwächeren) Film zum Thema, Mike Leighs "Vera Drake", eine Schwächung in seiner Relevanz durch eine unterschwellige moralische Beurteilung, die mir nicht gefällt.

Eastern Promises (Tödliche Versprechen)

Der nüchternste Kulturpessimist und Apokalyptiker Cronenberg ist der wohl im Vergleich zu den Coens, Lynch, Scorsese, De Palma, Tarantino und company am wenigsten hippe unter den Altmeistern und Genrechronologen, die sich mit der blutigen Seite der westlichen Kultur mit Ironie und Mut zum Entertainment befassen. Eastern Promises ist in vielerlei Hinsicht altbekannt, als Film über eine von Immigranten gegründete Verbrecherorganisation als verführerische Subkultur und als ein Film von Cronenberg mit Mut zu ganz viel Hässlichkeit. Die Mischung glückt: Trotz weniger Gewaltszenen ist der Film hammerhart, in einer minutenlangen Szene blieb dem ganzen Saal (mich eingeschlossen) das Herz stehen. Sehr ähnlich wie bei Sam Peckinpah dient eine ungeheuer ästhetische und brillant realisierte Gewaltsequenz so gar nicht als Eye-Candy, sondern als eine physische und psychische Belastung, da es um nichts anderes geht als eine adäquate Nachahmung des realen Tötens und des Getötet werdens. Nicht schön.
Viggo Mortensen gewinnt Sympathiepunkte und Naomi Watts ist immer hinreißend, auch wenn Cronenberg im Gegensatz zu Lynch überhaupt nicht daran interessiert ist sie besonders hübsch zu filmen. Schwach ist der Film aber manchmal in seiner allzu altmodisch geratenen und klischeehaft wirkenden Handlung und Darstellung des Millieus (Cronenberg ist übrigens ein ziemlich altmodischer Regisseur). Das Voiceover reicht von plump bis allerhöchstens ein wenig bewegend.

I'm a Cyborg but that's ok

Ein Film, den man lieb haben kann, aber nicht muss. Parks neuester ist ähnlich wie seine anderen spektakulär und over-the-top in seinen Ideen und seiner Inszenierung aber relativ minimalistisch in seinen Aussagen. Manchmal wirkt das schizophren: Soll das ganze jetzt Spaß machen oder bedeutungsschwer sein? Oft schafft der Film beides mit Leichtigkeit, in einigen hinreißenden Tagträumen von durch und durch liebenswerten, aber besonders geisteskranken Insassen einer Irrenanstalt, manchmal steht man das einfach durch und hofft auf ein baldiges Ende. Da ich aber lieber das Gute in einem Film sehe, halte ich ihn auf jeden Fall für sehenswert. Ein manchmal sehr eloquentes Plädoyer für unsere Träume sowie eine abgedrehte Untersuchung über psychologische und gesellschaftliche Trugbilder, und hin und wieder auch einfach zum Totlachen. Wirklich begeistert bin ich allerdings nicht.

My Blueberry Nights

Der großartigste Romantiker des Weltkinos versuchts mit amerikanischen Tränen und Landschaften, und die Tatsache, dass das sein mit Abstand schwächster Film ist, sollte einen nicht davon abhalten, diesen kleinen Film für die kleinen Freuden, die er bereithält, dennoch zu mögen, da er auch lange nicht so aufgeblasen ist wie sein Vorgängerwerk 2046. Ab dem Anfang wirkt der Film wie eine Wong Kar-Wai-Collection: die schimmernden, in Zeitlupe gefilmten Lichter der vorbeidüsenden Straßenbahn, Hausfenster/balkone, in die von außen melancholisch reingeblickt wird, Gerede über das Essen und verlorene Liebesmüh, nostalgische Notizen an der Pinnwand des Restaurants und verlorene Hausschlüssel, die vom Wirt aufbewahrt werden, Zeitdehnung und Zeitraffer in ständiger Wechselwirkung, etc. Jude Law erinnert einen gleich an Takeshi Kaneshiro.
Norah Jones spielt lange nicht so schlecht, wie alle behaupten, und war mir desöfteren richtig sympathisch, und die Nebendarsteller sind richtig klasse. Schade nur, dass der Film in seinem hochglanzpolierten Optmimismus manchmal bodenlos wirkt und ziemlich vorhersehbar ist. Dennoch kann man den Film schlechtreden wie man will, wenn alle "RomComs" aus der Traumfabrik auch nur halb so gut wären wie dieser hier, müsste man dieses Genre nicht abgrundtief miserabel finden.

No Country for Old Men

Die Coens gehen rückwärts: Dieser Film ist eine Rückbesinnung an "Blood Simple", eine sehr gute, aber keine großartige.
Ein Neowestern, mit Zitaten aus Leones "The Good, the Bad and The Ugly" und Peckinpahs "Getaway", der sehr straightforward ist für einen Coen-Film und den Eindruck erwecken lässt, die Coens wollen sich besonders erwachsen zeigen. Im Grunde ist das ein Actionfilm, dem manchmal die bierernsten Untertöne nicht stehen. Die Metapher des Westerns, der Ausblick in den nördlichen, südlichen, westlichen und östlichen Horizont, der nur durch Berge oder Seen eingeschränkt wird, hinter denen man die Gefahren nur erahnen kann, wird in die Moderne versetzt, Spuren im Sand weichen dem Piepen eines Senders zum Auffinden des Flüchtigen und seiner Kohle. Das Ganze ist ein Diskurs über Gewalt damals und heute, im Kino und im wahren Leben, über den Krieg, der Nachts auf derStraße wie auch Tagsüber in der Wüste stattfinden kann, über verschiedene Kapitalismusextreme: Der Killer, der für einen Haufen Geld alles tötet, dem aber das Geld weniger wichtig ist als das Töten, und Jugendlichen aus normalem Hause, die einem blutverschmiertem Mann nur für etwas Geld ihr T-Shirt geben. Javier Bardem und Tommy Lee Jones sind zwei Antithesen zu Gut und Böse. Ein Film, der immer sehr clever, nicht aber immer sehr intelligent wirkt, nach dem Abspann meint man nicht sehr viel neues gesehen zu haben. Sehr gut aber dennoch.

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Ich vermag natürlich besser zu dichten, als wie's hier geschieht. Ich spare mich für später auf.
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