Antwort auf: Re:...die Filmindustrie? von Khytomer

Farman
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Aus meiner Perspektive heraus ist die heutige Filmindustrie, der ich, man mag es mir vorwerfen oder mir hochhalten, das macht keinen Unterschied, sehr, sehr antagonistisch gegenüberstehe, einerseits sehr tragisch und andererseits nehm ichs locker. Ich brauch sie nicht. Noch braucht sie sonst jemand. Das ist allgemeiner Konsens, ob bei Kinogänger oder, wie in meinem Fall, Kinoverweigerer. Kein Mensch behauptet -kein Mensch würde ein solches Fass aufmachen, zu behaupten- dass wir in irgendeiner erdenklichen Form auch nur irgendwas brauchen, was im Multiplex läuft. Genauso wenig, wie man behauptet, dass wir wirklich ein iphone brauchen (Ausnahmen bestätigen nur die Regel). Das Telefon hat als Erfindung nun einmal diese Evolutionsstufe hinter sich gelassen. Es ist kein Telefon mehr. Genau so ist es mit dem Film. Es ist kein Kino mehr. Oder kein Film mehr, wie man es auch nennen mag. Es ist ein Hybrid aus vielerlei Dingen.
Ein derartiger evolutionistischer Pessimisus (oder Optimismus, das ist hiermit noch nicht konstatiert) ist mir eigentlich fern. Aber der Film unterscheidet sich darin nicht großartig von anderen Kunstformen. Das ist ein schwieriges Thema. Es ist nicht unbedingt so, dass die Zivilisation früher Bildhauer "gebraucht" hat. Aber heute braucht man sie noch viel weniger, weil Bilder hauen kein ausschließlich analoger Vorgang mehr ist. Filme zu machen ist auch kein analoger Vorgang mehr. Die Kamera auf etwas zu richten, was wirklich da ist, mit Händen, die wirklich da sind, in einer Umwelt, die wirklich da ist, in einem Leben, das wir alle vielleicht wirklich leben, das ist durch dieses digitale Hybrid, was in heutigen Lichtspielhäusern ausgestrahlt wird, überlebt. Digital sind nicht nur die Bilder, digital ist auch der Inhalt, auch der Inhalt eines sogenannten Independentfilms.
Multimediale Hybride: Der MTV-Effekt. Es ist keine Frage, dass ein Videoclip ergänzend zur Musik wirken kann. Dass Musik heute visuell ist, wird nicht nur von der Modeindustrie umarmt. Der Clip muss nicht nur eine Modenschau, er kann auch eine "Kunst" (was das jetzt genau ist, kann aus produktionstechnischen Gründen erst einmal nicht beantwortet werden) sein. Aber es ist keine Frage, dass dieses neue Hybrid, vor allem in seiner endgültigen Form, irgendwas gekillt hat, den Radiostar, der tatsächlich etwas anders war als der heutige Radiostar, und der so eine große Aura von Nostalgie nicht einfach so ohne Grund von sich aussendet. Wenn ein Clip die Musik begleitet, gibt es nun einmal die Gefahr, dass die Musik selbst nicht mehr visuell ist, sondern sich auf ihre Illustration ausruht. Es gibt alle möglichen Musiker seit MTV, es ist aber schwer vorzustellen, wie jemand wie Jimi Hendrix in der MTV-Generation ein populärer Musiker wäre, wie er es damals war. Kann der hochgradig visuelle Rausch seiner E-Gitarre visualisiert werden? Zumindest nicht so, wie es meistens getan wird. Sprich: Die Musik läuft Gefahr, selbst nicht mehr visuell zu sein, je mehr sie visualisiert wird. Sie kann flach und zweidimensional werden, weil sie die dritte Dimension einem anderen Medium überlasst, und die Verschmelzung ist keine unproblematische Sache. Ganz genauso läuft ein hochaufgelöster CGI-Streifen Gefahr, dass Schauspiel und Darstellung verpixelt, verschwommen, flach werden. Genauso läuft diese digitale Texturgewalt Gefahr, zu völlig texturlosen Bildern zu führen, solchen, die es uns nicht erlauben, unseren Blick schweifen zu lassen. Ein Mensch, ein Baum, oder ein Stuhl muss nicht im Zentrum des Bildes sein, um zu existieren - genau so wenig wie sie das gegenüber unserem natürlichen Blick müssen, der umherschweift, wenn wir den Kopf drehen. Was ich im Kino allgemein sehe, ist eine Welt ohne Textur, ohne Details, ohne überhaupt irgendwas, das existiert. Ich sehe im Kino kurz gesagt kein Leben mehr. Wenn es anders wäre, könnten wir uns darüber unterhalten, ob wir den Gros heutiger Produktionen brauchen. Die Frage ist von den meisten heute schon beantwortet, bevor sie überhaupt gestellt wird. So ist es nicht immer gewesen. Von daher hat der Film für mich und für sehr viele andere mehr als alles andere einen Nostalgiewert.

Ich habe mal alles geschaut, was so in Cannes lief, und grundsätzlich hielt ich früher sehr oft auf dem Laufenden. Das ist heute nicht mehr der Fall, aufgrund einerseits einer Lethargie, die daher kommt, dass mein Feuer hierfür etwas erloschen ist und ich grundsätzlich mit anderem beschäftigt bin, aufgrund andererseits der Einstellung, die ich habe, die aus obigem abzuleiten ist, und die sowohl eine gewisse Resignation, als auch eine gewisse Lockerheit beinhaltet. Ich brauch nunmal das ganze Zeug nicht, lass mich aber gerne positiv überraschen. Es ist ja kein Generalurteil, sondern das Ausmachen einer Tendenz. Gleichzeitig dazu lerne ich meine "Klassiker", die bis sehr weit in die Neunziger hineinreichen, in einer derartig intensiven Weise zu schätzen, wenn ich sie betrachte, dass sie tatsächlich ein Teil von mir werden. Das ist das besondere an ihnen. Wer erwartet, sofort einen "Orgasmus" zu bekommen, wenn er sie sieht, der wird niemals mit ihnen warm. Es geht nicht ums Abspritzen, darum geht es beim Porno. Es geht aber genauso wenig darum, sie objektiv zu "beurteilen", jedenfalls nicht in reiner, nackter Form. Es geht um so etwas wie einen seelischen Orgasmus. Ein mentaler oder emotionaler Zustand, der anhält und mich mich selbst und anderes um mich herum intensiver wahrnehmen lässt. Der Quickie ist hier keine Option. Das ist er genau so wenig bei Rembrandt wie bei Jimi Hendrix, genau so wenig bei Schwarzweiß- wie bei CGI-Filmen. Wenn erwartet wird, bei Dante oder Bach, oder Louis Armstrong oder Miles Davis, sofort emotional oder mental zu reagieren, dann wird man enttäuscht. Genau so wenig kann ich jemandem erklären, weshalb bei Filmen, die mittlerweile scheinbar ein anderer Sinn bei mir wahrnimmt als das bloße Auge, wie die Filme von Mizoguchi, Vigo, Dreyer, Renoir oder Rossellini, ich einen seelischen Orgasmus bekomme, der in Worten nur sehr schwer zu fassen ist. Andere werden ihn nicht bekommen. Ich hingegen bekomme bei Filmen von Christopher Nolan keinen hoch.

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Ich vermag natürlich besser zu dichten, als wie's hier geschieht. Ich spare mich für später auf.
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